(Marchtrenk, 14. Dezember 2020) Ein Expertengespräch zum Thema eGrocery mit Frederik Nieuwenhuys, Mitgründer und Geschäftsführer des erfolgreichen Online-Supermarkts Picnic, und David Hibbett, CEO TGW Northern Europe, zeigt: Ein Intralogistik-Spezialist und ein Retailer können großartige Ergebnisse erzielen, wenn beide Parteien eng zusammenarbeiten, gemeinsam lernen und sich als Team sehen.
Was hat Sie dazu bewogen, im Jahr 2015 ins eGrocery-Geschäft einzusteigen?
Frederik Nieuwenhuys: Wir wollten uns auf eine Nische konzentrieren. Nach einer Analyse von Handelsbereichen wie Bücher und Schuhe sind wir über den Online-Lebensmittelhandel gestolpert und haben uns gefragt: Warum ist dieses Segment so klein, während das Non-Food-Geschäft im Internet etwa zehn Prozent des gesamten Einzelhandels in Europa ausmacht? Nach einigen Jahren Recherche kam uns eine Idee: nämlich die drei Hauptgründe abzuschaffen, warum Menschen Lebensmittel nicht online kaufen.
Was sind diese drei Hauptgründe?
Frederik Nieuwenhuys: Erstens wollten die Verbraucher keine Liefergebühr bezahlen – also haben wir sie einfach abgeschafft. Zweitens wollten sie nicht stundenlang in der Wohnung auf ihre Lebensmittel warten – daher wir haben das Lieferfenster auf 20 Minuten reduziert. Und schließlich war der Bestellvorgang zu kompliziert – deshalb haben wir den Einkauf vereinfacht und verwenden ausschließlich eine App. Das hat in Kombination mit unserem Milk Run-Prinzip zu einem Modell geführt, das für den Massenmarkt tauglich ist. All diese Faktoren sowie ein effizientes Betriebskonzept haben uns dahin gebracht, wo wir heute sind.
Wollten Sie das Geschäft von Anfang an disruptiv gestalten?
Frederik Nieuwenhuys: Die erste Zeile in unserem Businessplan lautete nicht: Wir sind disruptiv! Wir haben uns vielmehr die Frage gestellt: Wie können wir ein Angebots- und Betriebsmodell schaffen, das bei den Verbrauchern funktioniert? Und: Wird die Masse das Angebot annehmen? Heute gibt es Städte, in denen 50 Prozent der Bevölkerung unsere App nutzen, das ist enorm. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite mussten wir Wege finden, effizient zu sein und ein wirtschaftliches Konzept auf die Beine stellen. Der Milk Run, unser Modell für die letzte Meile, hat das ebenso ermöglicht wie ein hocheffizienter Lagerbetrieb. Wir waren uns bewusst, dass wir große Teile automatisieren müssen.
Hatten Sie Angst vor den Riesen, die Sie auf dem Markt umgeben?
Frederik Nieuwenhuys: Nein, der Offline-Markt wird von Giganten dominiert. Und es gibt große Skaleneffekte in diesem Geschäft. Wir mussten uns also um all diese Skaleneffekte herumarbeiten und unseren eigenen Weg finden. Wir haben alles sorgfältig durchdacht und in unsere Pläne für die Roll-Outs in mehreren Ländern aufgenommen.
Wann haben Sie begonnen, über Automatisierung nachzudenken?
Frederik Nieuwenhuys: Es dauerte drei Jahre, bis wir 2015 mit Picnic starten konnten. Ich habe in dieser Zeit viele Standorte besucht und mit Lieferanten gesprochen. Da wir kaum Automatisierungs-Erfahrung hatten, mussten wir dieses Wissen erst aufbauen.
Warum haben Sie sich entschieden, in ein Central Fulfillment Center (CFC) statt in mehrere Micro Fulfillment Center (MFC) zu investieren?
Frederik Nieuwenhuys: Es gibt in Europa eine Tendenz zum Aufbau von CFCs, in den USA liegt der Schwerpunkt hingegen auf MFCs. Wir haben uns entschieden, in ein CFC zu investieren, weil wir einige Herausforderungen sahen, MFCs erfolgreich zu betreiben. Selbstverständlich haben viele stationäre Einzelhändler genug Platz, um ein MFC an ihrem Standort aufzubauen. Dann verfügen sie dort direkt über den Lagerbestand. Aber man muss die Kosten berücksichtigen, die anfallen, um die Waren zu diesen MFCs zu transportieren. Die CFCs sind hingegen so dimensioniert, dass sie Direktlieferungen von einer Vielzahl an Lieferanten aufnehmen können, die Inbound-Kosten sind sehr niedrig. Unsere Kunden können heute für morgen bestellen, die Zahl der Bestellungen und deren Zusammensetzung lässt sich also ziemlich genau vorhersagen. Daher können wir die Lieferkette und die Abläufe im Voraus planen. Das macht einen großen Unterschied zu bedarfsorientierten MFCs aus.
Herr Hibbett, sind Sie stolz, dass Picnic sich für TGW als Partner entschieden hat?
David Hibbett: Der Online-Lebensmittelhandel ist ein dynamisches, sich schnell veränderndes Segment. Für eine Partnerschaft muss man sich zunächst fragen: Was sind unsere Kernkompetenzen und was sind die Fähigkeiten des Kunden – und passen beide zusammen? TGW und Picnic sind zwei Technologieunternehmen. TGW hat viel Erfahrung, wie man Ware im Lager effizient bewegt. Picnic wiederum versteht die Bestellsysteme, die Lieferkette und den Operations-Bereich und hat ein einzigartiges Angebot an Services entwickelt. Zudem sind unsere Unternehmenskulturen sehr ähnlich. Picnic pflegt ein spannendes Mindset: Alles kann entwickelt, verändert und in Frage gestellt werden.
Frederik Nieuwenhuys: Das beschreibt uns in der Tat gut. Wir haben jetzt unser erstes großes Automatisierungsprojekt und bringen nicht viel Erfahrung mit. Aber wir haben großartige Köpfe mit viel Energie und Ausdauer. Die Zusammenarbeit, die wir aufgebaut haben, ist für Picnic und – wie ich denke, auch TGW – einzigartig. Das ist eine gute Grundlage und der Start ist positiv verlaufen. Ein wichtiger Faktor für den Erfolg bei einem so komplexen Projekt ist auch der Grad an Transparenz. Jeden Tag stellen wir uns gegenseitig viele Fragen. Das habe ich von Jeff Bezos gelernt, der sagte: Wir sind kein „Wir-wissen-alles-Unternehmen“, sondern ein „Wir-lernen-alles-Unternehmen“.
Wie funktioniert das Fulfillment einer Kunden-Bestellung?
Frederik Nieuwenhuys: Die Kunden bestellen bis zu einem bestimmten Annahmeschluss. Bereits Tage und Wochen davor haben wir die Anzahl der Bestellungen prognostiziert – und vorhergesagt, was wir voraussichtlich verkaufen werden, also wie viele Gurken, Milchflaschen, usw. Das alles führt zu Inbound Forecasts und dann zu Bestellungen bei den Lieferanten. Wir müssen sicherstellen, dass wir die richtigen Warenmengen auf Lager haben. Für Picnic ist eine Auftragsvollständigkeit von mehr als 99 Prozent das Ziel – aber auch eine geringe Abfallmenge. Letztere ist etwa 70 Prozent niedriger als im stationären Handel. Sobald wir die Bestellungen haben, ordnen wir sie den Behältern zu und führen unsere Tourenplanung für den Milk Run durch. Das ist wahrscheinlich das effizienteste System der Welt. Dann entscheiden wir, welche Aufträge in welcher Liefertour eingeplant werden – und welche Tour zu welcher Zeit mit welchem Fahrer beginnt. Eine Frage treibt den Herzschlag im Lager an: Welche Aufträge arbeiten wir zuerst ab? Das ist eine Herausforderung, denn die Kunden können ihre Bestellungen ja bis kurz vorher noch ändern.
David Hibbett: Die Anforderungen von Picnic bedeuten für TGW: Die Lösung muss superschnell und superflexibel sein. Und wir müssen immer die Reihenfolge der Waren im Auge behalten. Das Shuttle-Lager ist das zentrale Herzstück, um das herum wir viele periphere Module entworfen haben. Im Grunde gibt es zwei Kommissionier-Systeme. Das eine ist für große, leichte und zerbrechliche Ware, die wir schützen wollen. Für diese Artikel verwenden wir ein Person-zur-Ware-System. Der Rest geht an unsere Picking-Stationen. Alle Artikel zusammen kommen dann zurück ins Shuttle zur Konsolidierung und werden nach der Freigabe in den Auftragsbereich transferiert und bekommen die Routen zugeordnet.
Was sind die Herausforderungen im E-Commerce?
David Hibbett: Grundsätzlich stehen sowohl die Automatisierungsbranche als auch Unternehmen wie Picnic vor zwei Herausforderungen: Die Veränderungsrate und die Wachstumsrate. Die allergrößte Herausforderung ist jedoch die Schulung von Mitarbeitern. Die Automatisierung erfordert brillante Ingenieure und IT-Experten – und schon jetzt besteht eine hohe Nachfrage
Frederik Nieuwenhuys: Wir stellen talentierte Leute von den Unis ein, die schnell lernen. Aber natürlich brauchen sie etwas Zeit, um sich mit automatisierten Fulfillment Centern vertraut zu machen. Das aktuelle Projekt ist unser erstes großes Automatisierungsprojekt – und wir planen zahlreiche weitere, auch außerhalb der Niederlande. Daher müssen wir die Software, Module, Reporting und Wartung so standardisieren, dass wir eine große Zahl von Anlagen auf ähnliche Weise zuverlässig betreiben können.
Muss sich das Geschäftsmodell von Picnic in Zukunft ändern?
Frederik Nieuwenhuys: Der Kern unseres Geschäftsmodells ist sehr solide. Wir befinden uns in einem Massenmarkt. Ich denke, unser Modell hat großes Zusatzpotenzial. Wir haben damit begonnen, Pakete zurückzunehmen und wir könnten sie auch versenden. Wenn wir über Lagerautomatisierung nachdenken, berücksichtigen wir diese Prozesse ebenfalls.